Ich habe den Menschen Joseph Ratzinger nicht persönlich gekannt. Die Wenigsten, die in diesen Tagen über ihn schreiben und damit Timelines und Nachrichtenseiten fluten, haben das. Weder jene, die ihn am Liebsten sofort heiligsprechen würden – noch jene, die ihn zerreißen und verfluchen. Deshalb steht es mir auch nicht zu, ein Urteil über diesen Menschen zu fällen.
Eigentlich steht es niemandem zu, ein Urteil zu fällen. Außer Gott. Und weil ich daran glaube und darauf hoffe, dass er sowohl absolut gerecht als auch unendlich liebend ist, gehe ich davon aus, dass die Beiden eine sehr ausführliche und klärende Zusammenkunft haben. Ein Treffen, in dem ALLES auf den Tisch kommt: Sowohl das Gute, das Joseph bewirkt und getan hat, als auch seine Fehlentscheidungen und Irrwege. Da wird es um Menschen gehen, die Joseph gestärkt und ermutigt hat – und um Menschen, die er ausgegrenzt und zutiefst verletzt hat. Da wird es um Ansichten und (Glaubens-)Überzeugungen gehen, mit denen er in die richtige Richtung unterwegs war – und solche, mit denen er absolut daneben war.
Am Ende wird Gott ein barmherziges Urteil fällen. Wie er das macht, geht weit über meine Vorstellungskraft hinaus. Ich will einfach daran glauben; nicht zuletzt aus purem Eigennutz: Denn auch für mich erhoffe ich mir am Ende ein barmherziges Urteil über mein Leben, in dem ich ganz sicher nicht alles richtig und gut gemacht habe…
Deshalb fällt es mir auch nicht schwer, für den verstorbenen Menschen Joseph Ratzinger / Papst em. Benedikt XVI zu beten. Ihm (wie allen Menschen, die sich auf die Reise gemacht haben) wünsche ich von Herzen das Beste: Dass sie auf Gott in ihrer ganzen Fülle treffen, sich von ihr berühren, ergreifen und heilen lassen, Lebensfehler erkennen und eingestehen und dann in ein neues Leben weitergehen dürfen.
Womit ich nicht mitgehen kann: Mit all den „Santo-Subito“-Rufen, die in diesen Tagen laut werden. In Sachen Heiligsprechungen hat unsere Kirche in den letzten Jahren (vielleicht schon immer) zu oft daneben gegriffen und Menschen heiliggesprochen, die andere Menschen verletzt, ausgegrenzt und gedemütigt haben. Joseph Ratzinger war einer dieser Menschen – und ich bin mir sicher, dass er das in diesen Tagen selbst am Besten erkennt und wahrnimmt. Vielleicht sollten wir das mit den Heiligsprechungen sogar ganz sein lassen und einfach darauf vertrauen, dass Gott selbst am Besten weiß, wie er Menschen und ihr Lebenswerk zu beurteilen hat.
ZU einem „Heiligen Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI“ werde ich niemals beten oder rufen können. FÜR den Menschen Joseph Ratzinger werde ich gerne und jederzeit beten.
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