Stoppt den…

genderwahn
„Stoppt den Genderwahn!“ Diese Forderung taucht in den letzten Wochen immer wieder und immer öfter in Statements verschiedener Gruppen und Personen auf. Auch manche Bischöfe nutzen in Interviews oder Predigten diese oder ähnliche Formulierungen.

Was steht dahinter? Worum geht es? Worum geht es nicht? Worum sollte es gehen? Viele Fragen, die nicht auf die Schnelle zu beantworten sind. Denn in dem reißerischen Wort „Genderwahn“ verbergen sich gleich zwei Begriffe, die es wert sind, genauer hinzuschauen: „Gender“ und „Wahn“.

Was meint „Gender“?

Wikipedia definiert den Begriff wie folgt:

„Der Begriff Gender bezeichnet als Konzept die soziale, gesellschaftlich konstruierte oder psychologische Seite des Geschlechts einer Person im Unterschied zu ihrem biologischen Geschlecht (engl. sex). Der Begriff wurde aus dem Englischen übernommen, um auch im Deutschen eine Unterscheidung zwischen sozialem („gender“) und biologischem („sex“) Geschlecht treffen zu können, da das deutsche Wort Geschlecht in beiden Bedeutungen verwendet wird. Er dient vor allem als Terminus technicus in den Sozial- und Geisteswissenschaften.“

(Zum Vergleich: Die Erklärung der Weltgesundheitsorganisation, WHO)

Gender beschreibt also eine Realität, die in unserer Sprache nur schwer zu erfassen ist: Auf der einen Seite sieht man auf das biologische Geschlecht eines Menschen. Auf der anderen Seite nimmt man wahr, dass es zu jeder Zeit und in jeder Gesellschaft entsprechende Rollenzuschreibungen für Männer und Frauen gab und gibt, welche durch die Kultur geprägt waren und sind und sich auch auf die Rechte der jeweiligen Personen ausgewirken. Diese Rollenzuschreibungen ändern sich im Lauf der Zeit. So ist es heute z.B. erlaubt, dass Frauen in der Bundesrepublik Deutschland wählen dürfen, was ihnen bis 1919 nicht möglich war.

Rollenzuweisungen können vielfältig sein und werden besonders in klischeehaften Aussagen deutlich: „Eine Frau hat so oder so zu sein…“ / „Ein Mann hat dies oder jenes zu tun…“ / „Frauen sind schwach und schutzbedürftig.“ / „Männer sind stark und kämpferisch.“

Die „Gendertheorie“ ist zunächst ein wissenschaftliches Werkzeug, welches dazu gedacht ist, die genannten Rollenzuschreibungen kritisch zu betrachten, sie zu bewerten und sie gegebenenfalls zu ändern. Ihren Sinn findet sie vor allem darin, eine Rechtegleichheit zwischen den Geschlechtern herzustellen. Dabei berücksichtigt die Gendertheorie auch die Tatsache, dass die Einordnung mancher Menschen in die Kategorien „Mann“ und „Frau“ sowohl aus biologischer als auch aus psychologischer Sicht nicht immer einwandfrei möglich ist. Dies tut sie, ohne zu werten.

Kritiker der Gendertheorie meinen, dass dadurch die Unterschiede zwischen den Geschlechtern aufgehoben und verwischt würden. Manche Kritiker sprechen vom „Genderwahn“ und befürchten eine Relativierung der Ehe zwischen Mann und Frau als Fundament der Gesellschaft (und des Christentums).

„Wahn“ und „Ideologie“

„Wahn ist ein Krankheitssymptom aus dem Fachgebiet der Psychiatrie. Es handelt sich um eine schwere inhaltliche Denkstörung und kommt im Rahmen verschiedener psychischer Störungen vor. Der Wahn ist eine die Lebensführung behindernde Überzeugung, an welcher der Patient trotz der Unvereinbarkeit mit der objektiv nachprüfbaren Realität unbeirrt festhält. Dies kann eine Störung der Urteilsfähigkeit zur Folge haben.“ (Wikipedia)

Zunächst ist festzustellen, dass der Begriff „Wahn“ ein psychologischer Terminus ist. Die Verwendung in Kontexten wie diesem ist bewusst negativ wertend zu verstehen. Ein besserer Begriff wäre vielleicht „Ideologie“: Wenn eine Theorie auf den Status der Unangreifbarkeit gehievt wird und nicht mehr bereit ist, sich kritischen Anfragen zu stellen, wird sie zur Ideologie.

Jede Theorie oder Weltanschauung ist grundsätzlich in der Gefahr, zur Ideologie zu werden. Dies trifft auch auf die Gendertheorie zu. Insofern haben die Kritiker durchaus berechtigte Gründe, manche Auswüchse der Gendertheorie negativ zu bewerten und auf Fehlerquellen hinzuweisen. Ja, es gibt Vertreter/innen der Gendertheorie, welche in ihr das einzige Erklärungsmodell und Non-Plus-Ultra sehen. Bisweilen treibt das seltsame Blüten, auf die ich hier nicht näher eingehen will.

Die Gefahr, dass eine Weltanschauung zur Ideologie wird, gilt genau so für jede andere Theorie und Weltanschauung. So stehen auch Religionen ständig in der Gefahr, als Ideologie missbraucht zu werden. Aktuell gilt das z.B. für den Islam, der von der ISIS pervertiert und ideologisch benutzt wird. Das Christentum musste in seiner Geschichte bitter lernen, auf dem schmalen Grat zwischen Froher Botschaft und einengender Ideologie nicht falsch abzubiegen (und muss es noch heute).

Meine Meinung

Wenn eine Theorie oder Weltanschauung als Ideologie missbraucht wird, sind zunächst die jeweiligen „Täter“ zu stoppen – nicht gleich die Theorie als Ganzes. Denn es ist durchaus möglich, dass sich hinter der Theorie ein wahrer und sinnvoller Kern verbirgt, der lediglich falsch interpretiert oder als Waffe zur Durchsetzung zweifelhafter Interessen benutzt wird. Das befreit natürlich nicht von der Aufgabe, die Theorie kritisch, sachlich und wissenschaftlich auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen und sie gegebenenfalls neu zu bewerten.

Es führt nicht weiter, mit emotional geprägten Begriffen wie „Wahn“ um sich zu werfen. Verteufelungen sowie Schwarz-Weiß-Malereien führen zu nichts und haben in vernünftigen Diskussionen nichts zu suchen.

Was wir brauchen, ist eine Redefinition des Begriffs „Gender“. Sie hätte die Aufgabe, zu beschreiben was sich hinter „Gender“ verbirgt und was nicht. Da „Gender“ derzeit als Platzhalter für alle möglichen Inhalte genutzt wird, wäre eventuell auch darüber nachzudenken, neue oder bessere Begrifflichkeiten zu suchen. Es bleibt eine wissenschaftlich anerkannte Tatsache, dass es sowohl biologische als auch sozio-kulturelle Geschlechtszuschreibungen gibt, mit denen man nun mal irgendwie sinnvoll umgehen muss.

Dieser Aufgabe müssen auch wir als Christen uns stellen: Was meinen wir (was meint Kirche), wenn wir über Gender reden? In welchem Rahmen bewegen wir uns dabei und ab welchem Punkt besteht aus unserer Sicht die Gefahr, sich in eine Ideologie zu verrennen?

Fundamental und Fundamentalistisch

Bei einer etwaigen Neudefinition oder Konkretisierung des Genderbegriffs wird es für alle Seiten eine große Herausforderung sein, fundamentale Haltungen und Überzeugungen nicht mit fundamentalistischen Meinungen zu verwechseln.

Für uns als Christen ist zum Beispiel die biblisch begründete Überzeugung fundamental, dass die Ehe ein Bild für die Liebe Gottes zu uns Menschen ist. Dass Gott den Menschen als Mann und Frau geschaffen hat und erst beide zusammen als Ebenbild Gottes zu sehen sind.

Eine fundamentalistische Sichtweise wäre es dagegen, wenn wir daraus folgern würden, dass Gott nicht die Macht hat, im Leben derjenigen Menschen positiv zu wirken, die „anders ticken“; die homo-, trans- oder sonst irgendwie sexuell veranlagt sind. Dies verbietet sich schon durch die Tatsache, dass Gott in seiner Schöpfung Platz lässt für Menschen, die mit nicht eindeutig identifizierbaren Geschlechtsmerkmalen geboren werden.

Fundamentalismus bedeutet also, Gottes Allmacht in Frage zu stellen und unsere menschlich beschränkte Sicht als absoluten Wertemaßstab darüber zu setzen.

Der fundamentale Inhalt der Gendertheorie ist die Unterscheidung zwischen der biologischen Prägung der Geschlechter und der soziologischen Festlegung von Geschlechterrollen. Damit ist sie ein Werkzeug, mit dessen Hilfe wir festgefahrene oder fesselnde Ansichten kritisch anschauen können.

Gender wird fundamentalistisch, wenn es entgegen wissenschaftlicher (biologischer sowie soziologischer und psychologischer) Erkenntnisse als Mittel zur Gleichmacherei genutzt wird. Wenn wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Geschlechtern nicht anerkannt werden.

Gender und Jesus

Hier möchte ich (nach den langen Ausführungen oben) gar nicht mehr so viel schreiben, sondern vielmehr etwas feststellen: Jesus Christus hat die Gendertheorie meiner Meinung nach vorbildhaft genutzt, ohne sie zu kennen. Sein Umgang mit Frauen zeigt, dass er sie als Frauen wahrgenommen hat ohne sie in zeit- und kulturtypische Geschlechterrollen zu zwängen. Er war ein radikaler Kämpfer für Gerechtigkeit und tief davon überzeugt, dass Frauen und Männer vor Gott den gleichen Wert haben. Einen unendlichen Wert, der sich weder an biologischen noch an sozio-kulturellen Gegebenheiten orientiert.

Nebenbei: Wenn wir sein Handeln ernst nehmen, wird sich das natürlich auch auswirken müssen auf die Frage der Stellung der Frauen in der Kirche. Jesus selbst zeigt uns, dass das auch geht, ohne gegebene Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu verwischen.

Nochmal „Wahn“…

Zum Schluss noch ein Gedanke zum Wörtchen „Wahn“.
Ja – stoppt den Wahn! Stoppt den Wahn, hinter allem was neu oder ungewohnt ist, eine Verschwörung des Teufels zu vermuten.

Denn Wahn ist gefährlich.
Wahn ist krank.
Wirklich.

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6 Antworten zu “Stoppt den…”

  1. Lieber Carsten, danke für Deinen Text.

    Ich habe dennoch einige Bemerkungen dazu. Die Gendertheorie besagt, dass jede Unterscheidung zwischen den Geschlechtern unstatthaft ist, bzw. dass es wesentlich mehr als zwei Geschlechter gibt. Als biologistisches Beispiel werden dafür gerne Hermaphroditen herbeigezogen. Dabei verkennen sie aber, dass Hermaphroditen kein drittes Geschlecht sind (sie müssten dafür, rein biologistisch, ein drittes Geschlechtsmerkmal haben), sondern beide Geschlechter besitzen, in der Biologie gibt es also kein Beispiel dafür, dass es etwas gibt, was über ein zweites Geschlecht hinaus geht. Das ist nicht schlimm, ist die Gendertheorie an sich ja kein biologistisches, sondern ein konstruktivistisches. Dazu empfehle ich folgendes Video, der Rest erklärt sich von selbst: https://www.youtube.com/watch?v=p5LRdW8xw70 (nicht umsonst hat die schwedische Regierung im Anschluss auf dieses Video sämtliche Mittel für die Genderforschung gestrichen).

    Jetzt zu der These, Jesus wäre induktivistisch ein heimlicher Fan der Gendertheorie gewesen. Ich finde es interessant, dass Du das ohne irgendeinen Beleg in den Raum gestellt hast. Ja, Frauen waren ihm was, wert, aber das ist dem Judentum schonmal zu eigen – Frauen sind bereits im Tanakh nicht einfach nur Ware, sondern Rechtssubjekte. Jetzt die Frage, war Jesus ein Rollen-Revoluzzer? Mir fallen da spontan zwei Situationen ein. Jesus und die Ehebrecherin: „Geh und sündige hinfort nicht mehr!“, eine Stelle, in der Jesus eine gültige Rechtsordnung auch im Hinblick auf Frauen grundsätzlich anerkennt, nur die Rechtsfolge einer Straftat hinterfragt (daraus ergibt sich eher die Schlussfolgerung, dass Jesus Todesstrafen nicht mag, als dass er die Rolle der Frau hinterfrägt.), auch unter dem Kreuz (JohEv) erkennt er die Rolle der Frau ausrücklich an, indem er Maria, seine Mutter, in die Obhut von Johannes stellt. Auch im Wunder zu Kana stellt er klar, dass er die jüdische Gesellschaftsordnung nicht grundsätzlich hinterfragt, indem er als Erstgeborener äußerst deutlich zu seiner Mutter spricht. Nehme ich das Gesamte der biblischen Botschaft her, folgen daraus für mich folgende Schlüsse: es gibt eine Bipolarität der Geschlechter, die verschiedene Rollen einnehmen, Gott es aber immer wieder schafft, durch seine Berufungen diese Rollen aufzubrechen, und trotz der unterschiedlichen Rollen gilt, dass sie von Gott gleich geliebt sind. Mit Gender und dem Gedanken dahinter hat das nichts gemein.

    Egal, wo ich suche: das biologische und das soziale Geschlecht sind in der Schrift identisch.

    • Hallo Simon.

      Danke für Deine Gedanken dazu.
      Allerdings sehe ich mich in meiner Meinung durch Deine Ausführungen eher bestätigt als widerlegt.

      Du schreibst „Die Gendertheorie besagt, dass jede Unterscheidung zwischen den Geschlechtern unstatthaft ist…“
      Meine Antwort: Ja, es gibt Vertreter/innen der Gendertheorie, die unter dem Begriff „Gender“ genau das verstehen. Es gibt aber (mittlerweile) auch genügend Wissenschaftler in diesem Bereich, die das anders sehen. Deswegen meine Forderung nach einer Präzisierung des Begriffs.
      Dein Videolink bestätigt das um so mehr: Wie mit vielen anderen wissenschaftlichen Theorien wird auch mit der Gendertheorie allerlei Unfug getrieben…

      Zu meiner These über Jesus: Du schreibst passenderweise „Gott schafft es immer wieder, diese Rollen aufzubrechen“. Das sehe ich auch im Handeln Jesu – und leite davon nicht ab, dass das biologische und das soziale Geschlecht gleich sind. Sondern vielmehr, dass es biologische Geschlechter gibt und soziale Festschreibungen bzw. Rollenbilder dafür.

  2. DISCLAIMER: Ich werde, wie schon an anderen Stellen gesagt, nicht jeden Kommentar freischalten, sondern nur Kommentare, die neue Aspekte einbringen und nicht beleidigend sind. Das gilt auch für ideologische Kommentare.

    Für sich im Kreis drehende Diskussionen habe ich weder Zeit noch Energie. Diese dürfen gerne an anderer Stelle stattfinden.

    Merci 😉

  3. Erstmal Danke, Carsten, für diesen ausgewogenen Kommentar, der viel dazu beiträgt, ein Stück Realität in diese ganze Gender-Debatte zu bringen. Ich hab‘ in den letzten Wochen und Monaten so viele, neutral gesagt, „Beiträge“ in den verschiedenen Medien zu diesem Thema gelesen, die sich vor allem durch viel Emotion und wenig Wissen auszeichneten, dass es gut tat, auf etwas zu stoßen, das weder den Untergang der christlich-abendländischen Kultur durch Gender kommen sieht, noch in der Kritik an Gender eine frauen-schwulen-trans-bi-und-überhaupt-feindliche Verschwörung wittert.

    Ich denke, über die Unterscheidung von biologischem und sozialem Geschlecht und die notwendige Präzisierung dessen, was die Gender-Theorie eigentlich will und soll, muss nichts mehr gesagt werden. Dass es das biologisches Geschlecht (sex) gibt und jeweilige (sich über die Zeit ändernde) Rollenzuschreibungen (gender), kann man nur schwer ernsthaft bezweifeln.

    Mich interessieren eher die konkreten Konsequenzen, die wir gesellschaftlich und auch kirchlich daraus ziehen. Deswegen hätte ich mal eine Frage an Simon. Du schreibst, dass Jesus das Rollenbild der damaligen Gesellschaft nicht grundsätzlich in Frage stellt, auch wenn er mit Frauen auf Augenhöhe umgeht. Du folgerst weiterhin aus dem Gesamt der Bibel, dass es unterschiedliche Rollen der Geschlechter gibt, dass aber beide von Gott geliebt werden. Bis dahin gehe ich gerne mit.

    Die Frage ist nun: Was bedeutet das für uns heute? Frauen mögen im antiken Judentum Rechtssubjekte gewesen sein (eine Tendenz, die man seit hellenistischer Zeit auch im paganen Bereich beobachten kann), aber gleichberechtigt waren sie deshalb noch lange nicht. Sie konnten kein eigenständiges Leben, unabhängig von Vater, Bruder oder Ehemann, führen. Jesus hat innerhalb dieser Gesellschaft gelebt und ihre Regeln und Rollenzuschreibungen akzeptiert, wenn er sie auch manchmal durchbrochen hat. Das kann man ihm nicht vorwerfen, er war ja schließlich ein Mensch. Müssen deswegen aber Menschen heute noch diese Rollenzuschreibungen akzeptieren? Ein Leben, wie es Frauen (und Männer) heute führen, wäre im antiken Judentum undenkbar gewesen.

    So what? Betont nicht gerade die christliche Theologie die „Dimension der Geschichte“, wenn es um die Beziehung zwischen Gott und den Menschen geht? Bedeutet das nicht, dass der Wille Gottes sich in der Geschichte immer neu entfaltet, dass er immer neu erkannt werden muss, und dass er nicht ein für alle Mal irgendwo festgeschrieben steht (auch nicht in der Bibel)? Ich mag mich irren, denn ich bin mittlerweile eher in der Philosophie und Linguistik denn in der Theologie zu Hause, deshalb würde mich eine Antwort interessieren.

    Viele Grüße C.

  4. Im Grunde wiederholt sich in den Gender-Studien der alte anthropologische Streit zwischen „Biologisten“ und „Behavioristen“. Was bestimmt den Menschen: die Gene oder die Umgebung? Die Wahrheit liegt wohl in der Mitte. Der Mensch ist nicht Sklave seiner natürlichen Ausstattung, die Natur des Menschen zeigt sich jedoch auch in Geschlechtsstereotypen, die auch mit milliardenschweren Programmen nicht „aberzogen“ werden können. Man kann – polemisch gesagt – noch so viele „Girl’s Days“ veranstalten, der Frauenanteil in den MINT-Fächern wird dadurch nicht wesentlich steigen. Aber grundsätzlich anzuerkennen, dass eine Frau (trotz schlechterer räumlicher Vorstellungskraft) ein Verkehrsflugzeug steuern und ein Mann (trotz größeren Sexualtriebs) zölibatär leben kann, gehört zu den großen kulturellen Leistungen der menschlichen Gemeinschaft. Ob es dafür die Gender-Studien braucht oder lediglich ein Gespür dafür, dass der Mensch mehr ist als seine Biologie, möchte ich mal offen lassen. Zudem muss zwischen „es gibt“ und „es ist wesentlich“ unterschieden werden. Dass die Gender-Studien ihren Gegenstandsbereich für anthropologisch wesentlich halten, ist jedenfalls nicht unumstritten (ähnliches gilt – mit umgekehrten Vorzeichen – sicher auch für die Evolutionisten, die wissenschaftliche Forschung nur noch ernst nehmen, wenn sie in „evolutionärer“ Hinsicht stattfindet).

    Auch vor den Gender-Studien (als Studiengang erst in den 1990ern eingerichtet) gab es eine Berücksichtigung nicht-biologischer Geschlechtsmerkmale in den Disziplinen, die zu unserem Menschenbild beitragen. Ich hatte in den frühen 1980ern schon von „tertiären Geschlechtsmerkmalen“ gehört, die zu beschreiben versuchen, was – jenseits primärer und sekundärer Merkmale – einen Mann männlich und eine Frau weiblich macht. Mit Rollen hat sich die Soziologie schon lange vorher befasst. Auch die Psychologie wusste schon lange, dass ein Pianist mehr Gemeinsamkeiten mit einer Pianistin hat als mit einem Fernfahrer. Ich habe als Geisteswissenschaftler viel übrig für neue Ansätze und neue Kontextualisierungen auf Basis selbstindizierter neuer Fragestellungen, aber die Gender-Studien scheinen mir hier jedoch weit überschätzt. Vor allem das Paradigma „Geschlecht“ als Forschungsgegenstand scheint mir problematisch. Monokausale Erklärungsansätze für komplexe Phänomene (und ein solches sind sowohl der Mensch als auch dessen soziokulturelle Hervorbringungen, also Politik, Gesellschaft, Staat, Recht etc.) sind schon aufgrund ihrer argumentativen Engführung ideologieanfällig.

    Was die Ideologietendenz angeht, so stellt sich hier die Frage, inwieweit sauber zwischen Theorie und Tatsache unterschieden wird. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Grenze bewusst verwischt wird, um eine Theorie über Tatsachen selbst als Tatsache auszuweisen und in dieser Dignität gegen Kritik zu immunisieren. Das Problem besteht denn auch in der Normativität der Gender-Studien („sie zu bewerten und sie gegebenenfalls zu ändern[sic!]“). Gegen eine „Gendertheorie“ in deskriptiver Absicht hat niemand etwas einzuwenden. Der Wille, in gesellschaftliche Prozesse gezielt einzugreifen, mit der Würde der „Wissenschaft“ im Rücken, geht jedoch über das, was Wissenschaft leisten kann und soll, weit hinaus. Dass Vertreterinnen und Vertreter der Gender-Studien ihren Arbeitsbereich ideologisch überhöhen, z.T. mit gezielten persönlichen Interessen, dafür gibt es zahlreiche Beispiele, die in der zur Schau gestellten Irritationslosigkeit erschreckend sind, auch wenn sie „nur“ provozieren wollen. Die eigene Forschungswahrheit für so absolut zu halten, das sie über Recht und Gesetz steht, trägt jedenfalls deutliche Züge ideologischer Verblendung.

    „Jesus Christus hat die Gendertheorie meiner Meinung nach vorbildhaft genutzt, ohne sie zu kennen.“ – Steile These, die meiner Ansicht nach Jesu Handeln in ungeeigneter Weise einem Interpretationsschema unserer Tage zuschreibt, das zudem in seiner normativen Zielrichtung unterschätzt wird. Was Jesus angeht, so denke ich, dass Er jeden Menschen als Menschen mit konkreten Bedürfnissen gesehen hat – ganz unabhängig von Kategorien wie Geschlecht, Status, Nationalität, Religion etc. Das ist ja das völlig Neue (und damals Anstößige). Jesus hat wohl nicht gedacht: „So, jetzt habe ich zwei Männern geholfen, als nächstes ist aber mal eine Frau dran.“ Oder: „Hm – würde der Mutter ja gerne helfen, aber legte sie das dann nicht zu sehr auf ihre Rolle fest?“ Nein, Jesus will das Reich Gottes verkünden und beginnen lassen. Dazu gehört eine Gerechtigkeit, die über unsere Vorstellungen von Gleichheit hinausgeht (Arbeiter im Weinberg!), dazu gehört eine Barmherzigkeit, die sich gar nicht analytisch einordnen lässt (eben, weil sie sich als Gnade dem moralisch Gebotenen und sittlich Angemessenen entzieht), gegenüber jedem Menschen.

    LG, Josef Bordat

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